What remains of Edith Finch

„What remains of Edith Finch“ wurde entwickelt von Giant Sparrow und ist eine der ersten Veröffentlichungen des Spielepublishers Annapurna Interactive. Schon bei der Gründung ließ das Publisher-Team durch blicken, dass sie Großes vorhaben. Der Fokus soll dabei auf persönlichen, emotionalen und originellen Konzepten liegen. Ihre Vision ist es den bisherigen Rahmen des interaktiven Storytellings zu brechen, d.h. Kunst und Gaming einander näher zu bringen und so die bisherigen Grenzen des Mediums zu überschreiten. Große Worte für so einen junge Firma, aber Ist ihnen das mit ihrem ersten Titel gelungen?

Man schlüpft in die Rolle von Edith Finch, einer jungen amerikanischen Frau, die wie sie selbst erwähnt zur unglückseligsten Familie Amerikas gehört. Ein Fluch soll auf ihrer Familie lasten. Und da Edith die einzige Überlebende ist, führt Sie uns Stück für Stück in die Umstände ihrer Familie ein. Zentrum der Erzählung ist das Haus der Finchs, ein abstruses Gebäude, das meterhoch, zusammengestückelt aus allen möglichen und unmöglichen Teilen aus der Umgebung ragt. Die Protagonistin kehrt nach langer Abwesenheit in ihr verlassenes Elternhaus zurück und versucht die Wahrheit über den Fluch ihrer Familie rauszufinden. Seltsame Dinge erzählt sie uns auf dem Weg dahin. Schnell wird klar, dass es bei den Finches tatsächlich nicht mit rechten Dingen zuging – Familienmitglieder verschwanden oder starben, ihre Zimmer wurden einfach verschlossen oder verbaut, von außen nur noch einsehbar durch einen Spion. Solch mysteriöse Umstände schienen zum Alltag von Ediths Kindheit zu gehören.

Neue Wege des interaktiven Storytelling

„What remains of Edith Finch“ reiht sich ein in die Liste der sogenannten „Walkingsimulatoren“. Diese Spielekategorie zeichnet sich durch wenig Interaktion im Game selbst aus, böse Zungen behaupten, dass es eigentlich gar keine Spielmechaniken gibt. Zentrum des Spiels ist die Erfahrung der Welt selbst und dass nicht durch aktives Interagieren mit z.B. Items, sondern eher durch Wahrnehmen der Umgebung und der Narrative. Dementsprechend gibt es wenig oder eigentlich gar keine Funktionen wie ein Inventar. Die Spieler_innen laufen lediglich in Ego-Perspektive durch die Spielewelt, erforschen deren Geschichte und Rahmenbedingungen und lassen sie auf sich wirken. Was für einen Mehrwert es hat so ein Spiel zu spielen, mag sich jetzt manch Einer fragen. Doch der Hersteller und unzählige Preise, die das Spiel 2017 gewonnen hat, beweisen, dass weniger manchmal mehr ist.

Heimat und Fluch

Es gibt nicht viel Einführung in das Spiel, man startet ohne große Titel- oder Ladescreens und landet auf dem Weg zu dem Anwesen der Finches. Ediths Stimme aus dem Off klärt auf, wo man sich befindet. Das bizarre Bauwerk ragt oben auf dem Berg, ein verschlungener Weg zeichnet sich vor einem ab. Der einzige Screen der dauerhaft als Assistenz zur Verfügung steht, ist der Familienstammbaum, der sich immer weiter freischaltet, je mehr man erfährt. Aus einer Mischung aus Tagebucheinträgen und persönlichem Gespräch führt sie einen peu à peu ihrem Elternhaus näher und gibt indirekt Tipps, wie man z.B. durch die verschlossene Eingangstür kommt. Damit ist man beim Herzstück des Spiels angelangt. Detailverliebt aber auch bedrückend breitet sich das Haus und seine außergewöhnliche Atmosphäre vor den Spieler_innen aus. Raum für Raum arbeitet man sich immer weiter in der Familiengeschichte vor. Wirkliche Rätsel gibt es nicht, alle Gegenstände die wichtig für den Spielverlauf sind werden mit einem weißen Buch-Icon unübersehbar hervorgehoben. Jedes Zimmer gehörte einem oder mehreren Familienmitglied/ern. Wenn der ihm zugehörige Gegenstand gefunden wurde, wird in einer kleineren oder größeren interaktiven Szene aufgeklärt, was es mit ihm/ihr auf sich hatte.

Streitgespräche und Badewannenchoreographien

Alle Geschichten besitzen emotionale Tiefe und auch beschäftigen nachhaltig über die kurze Spielzeit von zwei bis vier Stunden hinaus. Eine wird hier näher beleuchtet, die des kleinen Säuglings Gregory. Getriggert wird Gregory Finchs Erzählung von einem Scheidungsvertrag, der auf seinem Babybettchen liegt. Sobald der Vertrag näher betrachtet wird, fällt auf, dass darunter noch ein persönlicher Brief von Gregorys Vater an Gregorys Mutter angeheftet ist. Sofort beginnt die Stimme des Vaters den Brief aus dem Off vorzulesen. Es geht um den kleinen Gregory, was für ein einzigartiges Kind er ist, dass man das Gefühl hatte, dass er Dinge wahrnimmt, die nicht sichtbar sind. Der Brief verschwindet vom Bildschirm und die Spieler_innen befinden sich auf einmal als Säugling mit Froschspielzeug in der Hand in einer Badewanne.

Die Mutter möchte ihm gerade herausholen, als plötzlich noch mal das Telefon klingelt. Trotz ihres Zögerns, läuft sie noch mal schnell aus dem Bad, um den Anruf anzunehmen. Es ist Gregorys Vater und es ist zu hören, dass die Eltern gerade nicht allzu gut aufeinander zu sprechen sind. Gregory beschäftigt sich derweil mit dem Froschspielzeug, das innerhalb der Badewanne intuitiv per Maus gesteuert werden kann. Nicht nur das, die klassische Musik im Hintergrund lässt sich darüber auch dirigieren. Wie von Zauberhand erscheint immer mehr Spielzeug, das immer virtuoser durch die Badewanne gewirbelt werden kann. Gleichzeitig laufen das Streitgespräch und der Brief aus dem Scheidungsvertrag weiter. Einmal hält die Mutter kurz inne und will Gregory aus der Badewanne holen, zieht den Stöpsel, wird aber wieder vom Gespräch ablenkt und lässt ihn wiederum alleine. Weiterhin vertieft in die kunstvolle Spielzeugchoreografie, ist es durch diese möglich den Hahn wieder anzudrehen und das Wasser um ihn steigt und steigt.

Der Bildschirm wird kurz weiß und die Stimme des Vaters ist wieder zu hören. Plötzlich verwandelt sich die Umgebung zu einer zauberhaften mit Algen überwucherten Unterwasserwelt mit den jetzt überlebensgroßen Spielzeugen und Gregory bzw. die Spieler_innen wurden in einen Frosch verwandelt. Artistisch und schwerelos jagt dieser nun zwischen dem Algenwald den Spielzeugen hinterher. Bis ein riesenhaften Stöpsel auftaucht und es nun klar wird, dass die zauberhafte Unterwasserwelt immer noch die Badewanne ist. Der Stöpsel wird gezogen und die Spielzeuge bedeuten einem durch den gigantischen Ausguss zu schwimmen. Der Bildschirm wird wieder weiß, und Vaters Stimme beendet die Erzählung von Gregory mit den Sätzen: “Ich bin mir sicher, dass er glücklich ist und er will, dass du auch glücklich bist.“

Gespielter Säuglingstod und ein Wermutstropfen

Erst ein paar Minuten später wird wirklich klar, dass die vorherige Episode sich mit dem Säuglingstod durch Ertrinken in der eigenen Badewanne spielerisch auseinandersetzt. So absurd das Ganze klingen mag, keinen Moment lang kommt dabei Trauer oder Verstörtheit auf, eher eine tiefe Rührung durch die Poesie der Erzählung und die virtuose Verflechtung der einfachen Spielmechaniken mit dem komplexen Thema. Diese Feinfühligkeit zieht sich das ganze Spielerlebnis. Die Spielerfahrung zieht in seinen Bann und ist die Spielnarrative betreffend ein Meilenstein. Der Publisher hatte also nicht zu viel versprochen, aber einen Wermutstropfen gab es aber trotzdem. Während des Durchspielens gab es zwei Stellen, in denen Bugs es unmöglich machten das Spiel fortzusetzen. Besonders ärgerlich war dabei, dass einer davon das Spielende betraf. Wiederholt musste man neu starten und weniger frustresistente Spieler_innen wären wohl nicht zum großen Finale gekommen. Positiv in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass der Onlinesupport von Steam einwandfrei funktioniert und versucht Abhilfe zu schaffen.

Fazit:

„What remains of Edith Finch“ ist nicht sonderlich herausfordernd auf einer mechanischen Ebene, viele jüngere Kinder und Jugendliche dürften ohne Probleme mit der Steuerung zurechtkommen. Dennoch sind die Thematiken der einzelnen Personen ungeachtet der USK Freigabe ab 12 Jahren nichts für zartbesaitete Seelen. Neben den Horrorelementen, die in einer Episode auftauchen, setzen sich die einzelnen Geschichten mit unterschiedlichsten Problematiken – Kindstod, Mord oder plötzliches Verschwinden von Familienmitgliedern – des Menschseins auseinander und enden meist mit dem Tod der Hauptperson. Dennoch schaffen es die Entwickler sich auf eine Weise damit zu beschäftigen, die weder aufgesetzt noch deprimierend wirkt, vielmehr berührt die Erzählweise tief und überrascht durch die wenigen intuitiven aber auch innovativen Gameplayelemente. Entscheidend ist wie sehr man dazu in der Lage ist, sich auf den die Geschichte(n) der Protagonistin einzulassen. Jugendlichen ab 14 Jahren dürften in der Lage sein mit den vielschichtigen Themenkomplexen adäquat umzugehen und sie auch richtig einzuordnen. Zudem ist die exzellente Audioausgabe nur auf Englisch vorhanden, dementsprechend wären Englischkenntnisse zum vollen Genuss des Spiels ratsam aber nicht notwendig, da Untertitel und ein Menü auf Deutsch mitinbegriffen sind.

Eine Rezension von Sidonie von Ploetz // Wintersemester 2017/2018