Geschlechterrollen in Japan und in Catherine

Zwischen Realität und Mythos.

Wenn man an japanische Geschlechterrollen denkt und nicht gerade japanisch studiert oder japanischer Nationalität ist, gibt es viele diffuse Assoziationen zwischen Realität und Mythos. Viele mögen an Geishas denken oder Samurai, andere an die klassischen Rollen in Animes, wie süße kleine Mädchen und androgyne Jungen. Oder an den klassischen hart arbeitenden japanischen Mann und die zierliche, schüchterne japanische Frau. Um etwas Licht ins Dunkel der japanischen Geschlechterverhältnisse zu bringen, ist ein kurzer Blick in die Vergangenheit Japans notwendig, bevor wir uns der Gegenwart zuwenden und entscheiden, ob Catherines Charaktere sich in der Tradition oder Moderne bewegen.

Von Konfuzianismus zum Zweiten Weltkrieg.

Die japanische Geschlechtertradition ist geprägt vom Konfuzianismus und konfuzianischen Idealen. Im Zentrum steht nicht der Einzelne , sondern die Gemeinschaft (z.B. die Familie, das Dorf oder die Provinz). Alles hat seine Ordnung und seinen Platz. Der Haushalt bzw. die Familie bilden das Fundament. Loyalität; Anstand, Respekt und Sitten hatten eine große Bedeutung in der patriarchal geprägten Gesellschaft.[1] Ein Mann musste stark, aggressiv, dominant, ehrgeizig und rational sein – alles was ein Oberhaupt an Charaktereigenschaften braucht. Zusätzlich spielte die Ergebenheit und Loyalität zum Kaiser eine große Rolle. Auch die berühmten Samurai waren an den Kodex des Bushido (jap. Weg des Kriegers) gebunden. Neben den oben genannten männlichen Idealen, kam die Bildung in den schönen Künsten dazu und natürlich das Kampfgeschick hinzu.[2] Von Frauen wurde erwartet zu heiraten (meist eine arrangierte Ehe), Kinder zu bekommen und das Haus zu hüten, typischerweise in einem Mehrgenerationenhaushalt mit bis zu drei Generationen unter einem Dach.

Bis ins späte 19. Jahrhundert existierten Frauen gesetzlich nicht wirklich: sie konnten kein Eigentum besitzen und mussten sich dem Mann in jeglicher Weise unterordnen. Diese Ideale verstärkten sich vor dem Zweiten Weltkrieg. Neben der Loyalität wurde die Ausübung der Geschlechterrollen eine heilige Pflicht.Führende Persönlichkeiten und Höhergestellte waren moralisch überlegen und etwa wie bei uns war der Adel unantastbar in jeglicher Hinsicht. Die Ideale des Konfuzianismus und des Bushido lockerten sich graduell in der japanischen Gesellschaft. Der markanteste Sprung fand nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Mit dem Civil Code von 1947 bekamen Frauen das Recht auf Eigentum, ein Familienerbe, selbstbestimmt zu heiraten und sich scheiden zu lassen, zu wählen und die rechtliche Handhabe als ein Elternteil.[3]

Männer und Frauen – ein Rollenmodell zwischen Moderne und Tradition.

Seine Wurzeln merkt man dem modernen Japan bis heute an. Für einen Mann ist es üblich, dass er die Firma als oberste Priorität hat. Er widmet sich seiner Arbeit und setzt die Ziele seines Arbeitgebers über seine eigenen. Für Frauen ist das Gegenteil der Fall, denn sobald sie schwanger sind, wird erwartet, dass sie ihren Job kündigen und sich komplett dem Aufziehen des Kindes und der Instandhaltung des Haushalts widmen.[3]

Das Glück der Frauen liegt immer noch in der Ehe. Eine Heirat sollte am besten zwischen 22 und 27 Jahren stattfinden. Früher war es nicht ungewöhnlich, dass Frauen, die nach 27 noch unverheiratet waren, gesellschaftlich gebrandmarkt wurden. Doch mittlerweile lösen sich die festen Strukturen und spätere Hochzeiten sind akzeptierter. Auch Frauen, die trotz Kindern arbeiten, sind keine Seltenheit mehr. Auch wenn sie meistens eher in Teilzeitarbeitsverhältnissen stehen als in Karrierejobs. Weiterhin ist das Ausleben von Weiblichkeit noch hauptsächlich mit Mutterschaft verknüpft und Männlichkeit mit dem Verfolgen der Karriere. Von diesen Männern wird erwartet, alleine die Last der Finanzierung der Familie zu schultern, selbst wenn sie gerne die Erziehung der Kinder übernehmen würden. Der Hausmann ist kein akzeptierter Lebensentwurf in der japanischen Gesellschaft.[4]

Mittlerweile gibt es sowohl Männer, als auch Frauen, die sich bewusst gegen die traditionell vorgeschriebenen Rollen wenden. Direkten Einfluss darauf hatte das Platzen der Spekulationsblase in den Neunzigern, das die Wirtschaftslandschaft Japans komplett veränderte. Eine der vorherrschenden Prinzipien der japanischen Wirtschaft, die des sarariiman(Geschäftsmanns), begann zu bröckeln. Als sarariiman bezeichnet man Männer, die nach dem Universitätsabschluss bei einer Firma ein Leben lang arbeiten, mit der schon erwähnten Hingabe und Loyalität. Die kommenden Jahrzehnte werden in Japan als Ushinawareta Nijūnen (失われた20 年, „Zwei verlorene Dekaden“) bezeichnet, wegen der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung seit 1990.

Von Grasfressermännern, Parasite Singles und Hikikomori.

Aus diesen Entwicklungen ging ein in Japan auch medial ein sehr großes Thema hervor: der sogenannte „Pflanzenfressermann“. Im japanischen Sōshoku danshi (wörtlich übersetzt grasessende Jungs) genannt, bezeichnet Männer, die entgegen der traditionellen Werte leben. Charakteristisch für diese ist, dass sie weder besonders aggressiv das andere Geschlecht verfolgen, noch den beruflichen und gesellschaftlichen Status der vorherigen Generation. Sie sind oft an eher „unmännlichen“ Dingen interessiert, wie Mode, Backen und Stickerei. Trotzdem geben sie nicht viel Geld aus. In der internationalen Presse wird gerne der Faktor nach vorne gestellt, dass sie keinen Sex und Beziehungen wollen. Jedoch verhält es sich eher so, dass sie nicht bestimmt sind von dem Gedanken, eine Frau zu finden und eine Familie zu gründen. Sie sind als Singles und platonische Freunde (in Japan ist die Existenz von Freundschaft zwischen Frauen und Männern noch nicht ganz verifiziert ) von Frauen genauso glücklich. Was in einer Gesellschaft, in der Geburtszahlen rückläufig sind, Überalterung ein massives Problem ist und die Immigration, um es diplomatisch auszudrücken, nicht sonderlich gefordert wird, die Grasfressermänner zu einem kontrovers diskutierten Thema macht.

Weitere Entwicklungen sind, wenn auch für Catherine weniger relevant, nichtsdestotrotz interessant, einmal die sogenannten Parasite Singles. Ein Begriff der junge Menschen bezeichnet, vor allem junge Frauen, die finanziell abhängig vom Elternhaus, in eben diesem, ohne Ambition jemals auszuziehen, verbleiben.
Das Geld, das sie dadurch sparen, wird für hedonistische Zwecke verwendet, wie Lifestyle, Mode und Reisen. Interessant ist zudem, dass die Zahl bei den über
dreißigjährigen Parasite Singles, die noch nie eine Beziehung oder sexuellen Kontakt mit
dem anderen Geschlecht hatten, wächst.

Zusätzlich erhält das Phänomen der Hikikomori (jap. ひきこもり: das Haus nicht verlassen) regen Zuwachs.  Das japanische Gesundheitsministerium gab 2006 als Definition für Hikikomori folgende Charakteristika bekannt: eine Person die sich weigert, das Elternhaus zu verlassen, und sich für mindestens sechs Monate aus der Familie und der Gesellschaft zurückzieht. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Hikikomori für Jahre oder sogar Jahrzehnte in dieser selbst gewählten Isolation blieben.

Parallelen zu den Charakteren von Catherine

Natürlich spiegeln sich diese gesellschaftlichen Entwicklungen in der Popkultur Japans wieder. Ich könnte euch jetzt eine Aufzählung liefern, in der die oben angeschnittenen Themen in verschiedenen Medien wie Manga, Anime, Games und auch Dorama aufgegriffen und versponnen werden. Da aber der Fokus hier auf Catherine liegt, wenden wir uns nun endlich den Charakteren zu.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass der Hauptcharakter Vincent Brooks zumindest Anleihen der ‚Pflanzenfressermanncharakteristika‘ hat. Er ist weder sonderlich ambitioniert in seinem Job noch in seiner Beziehung. Er hat einen Sinn für Mode und verbringt seine Zeit eher mit hedonistischen Aktivitäten, als mit seiner Karriere. Die traditionellen Werte von Hochzeit, Karriere und Familie haben zwar eine Bedeutung für ihn, aber es scheinen keine zeitnahen, aktiven Ziele in seinem Leben zu sein. Es macht eher den Eindruck, dass ihn dabei die Verpflichtung und Verantwortung ängstigt und abschreckt. Er ist alles andere als offensiv mit den Frauen in seinem Leben, er ist der passive Part bei seinem Seitensprung mit Catherine, aber auch in seiner Beziehung zu der anderen Katherine gibt es kaum eine aktive Teilnahme am Geschehen.

Im Gegensatz dazu steht seine Freundin Katherine McBride. Katherine ist ein Abbild einer modernen Frau zwischen den Werten und Erwartungen der Vergangenheit und Gegenwart. Sie steht aktiv im Leben, arbeitet in einem guten Job, ist karrieregetrieben und hat Ambitionen.

Trotzdem ist sie beeinflusst und vielleicht auch ein wenig zerrissen von den traditionellen Werten der Heirat und der Familie. Eine Heirat mit Vince ist ein zentrales Leitmotiv für Sie. Als Untermalung ihres eigenen Wunsches, aber auch als eindeutiger Hinweis auf ihre traditionellen Wurzeln, erwähnt sie in einem Gespräch mit Vince im „Chrono Rabbit“, dass ihre Familie Erwartungen in Richtung Heirat und Kinderkriegen an die beiden hat. Auch als Sie andeutet, schwanger zu sein, ist es nicht wirklich der Fakt der Schwangerschaft, der sie aus dem Konzept bringt, sondern Vincents passive, fast negative Reaktion. Dementsprechend ist zu folgern, dass sie sich ein Kind in Zukunft wünscht. Wie ihre Vorstellungen nach der Geburt aussehen, kann nur spekuliert werden.

Last but not least ist die junge Catherine. Sie steht im Kontrast zu den vorherigen beiden Charakteren. Ich bin fast versucht zu behaupten, dass sie eher eine Manifestation aus der japanischen Popkultur und männlichen Phantasien ist, als eine wirkliche Frau, die eine gesellschaftliche oder traditionelle Grundlage hat. Sie besitzt die typischen Charakteristika für junge Frauen diverser (hauptsächlich an ein männliches Publikum gerichteter) Genres der Manga und Hentai-Szene: Anfang zwanzig (oder auch gerne darunter), offensiv und sehr sexualisiert.  Catherines Kleidungstil ist mehr Lingerie als Abendgarderobe und ihr Verhalten ist vor allem darauf konzentriert Vincent zu verführen. Jedoch gibt es ein paar Anzeichen, die sie eindeutig als moderne Frau frei von traditionellen Rollenbildern deklarieren. Nicht nur einmal bildet sie den Gegenpol zu Katherine: Heirat hat keine Bedeutung für sie, sie möchte nicht gebunden sein, ihr reicht es eine gute Zeit zu haben. Sie ist nicht sonderlich interessiert an Arbeit und Status, sie versteht die Notwendigkeit, aber alles andere darüber hinaus wie Ambitionen und Überstunden liegen fern ihrer Welt. Sie wertet Vincent im Gegensatz zu ihrer Rivalin Katherine nicht wegen seiner Karriere oder fehlenden Ambitionen ab. Im Gegenteil, sie ermutigt ihn und versucht ihn zum Schwänzen zu verführen.

(Spoiler!) Prinzipiell wäre aus Gründen der Ehrlichkeit anzufügen, dass solche Schlussfolgerungen schon alleine in Frage zu stellen sind, da ihre wahre Identität, die eines Succubus ist. Dessen Mission es beinhaltet, die Welt von betrügenden Männern mit Hilfe eines Fluchs zu reinigen. Wer weiß schon, welche Geschlechtervorbilder Kreaturen der Hölle haben? (/Spoiler) Spaß beiseite, der Konsens, der hier untersuchten Charaktere ist, dass ihnen mehrere Facetten der Entwicklungen der japanischen Gesellschaft und dem Wandel ihrer Rollenbilder als Inspiration zugrunde liegen. Ob das nun wirklich ein bewusster Vorgang des Entwicklerstudio Atlus war, oder eine unbewusste Projektion, wagt die Autorin dieses Texts nicht zu beurteilen.

© Anastasia Kudinov & Sidonie von Ploetz // Wintersemester 2017/2018

 

Quellen:                                                                                                                                                     
[1] Slote, W. & De Vos, G. (1998). A Japanese Legacy of Confucian Thought. Confucians and the Family. Ebook.

[2] Brown, R. (2012). Yasuoka Masahiro’s ‘New Discourse on Bushido Philosophy’: Cultivating the Samurai Spirit and Men of Character for Imperial Japan. Social Science Japan Journal.

[3]  North, S. (2009). Negotiating What’s ‘Natural’: Persistent Domestic Gender Role Inequality in Japan. Social Science Japan Journal.

[4]  Sugihara, Y. & Katsurada, E. (2002). Gender Role Development in Japanese Culture: Diminishing Gender Role Differences in a Contemporary Society.